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Legende
In dieser Nacht hatte sich Olma wieder in ihre Hütte zurückgezogen, um sich nach den turbulenten Ereignissen des Abends - die Diskussionen über Schuld und Unschuld, Chris' Geständnis, seine Hinrichtung, die grausamen Entdeckungen in seinem Haus - etwas Ruhe zu gönnen. Diese ganze Werwolf-Angelegenheit war ohne Zweifel die gefährlichste und nervenaufreibendste Situation, in der sie sich in ihrem langen Leben befunden hatte. Auch wenn es ihr dank Altersweisheit und einem von Natur aus ruhigen Gemüt möglich gewesen war, einen klaren Kopf zu bewahren, spürte Olma die Anspannung und den Stress, die der tägliche Kampf ums Überleben verursachte, langsam aber sicher in ihren alten Knochen.
Nachdenklich saß die Dorfälteste in ihrem Schaukelstuhl, den sie so selten wie möglich verließ, und starrte in die Flammen, die in ihrem Kamin loderten. Hin und her wankte der Schaukelstuhl auf seinen Kufen, in einem stetigen Rythmus ohne Rücksicht auf die verstreichende Zeit, wie das Pendel in der alten Standuhr, welche an der Wand neben dem Kamin stand, während Olmas Blick unbeweglich und starr auf der leuchtenden Feuersglut ruhte.
So vergingen einige Stunden, in denen draußen der verhängnisvolle Mond, dieser blasse Katalysator des Verderbens, die Wolken vertrieb und immer höher am Firmament hinaufkletterte, als wollte er eine bessere Sicht bekommen auf den Mord, den seine haarigen Diener in dieser Nacht anrichten würden.
Ein leises Geräusch erweckte Olma aus ihrer Trance. Noch immer züngelten die Flammen im Kamin und wärmten die trockene Luft in der Hütte. Sie hatte eine Eingebung. Plötzlich erwachte die alte Frau aus ihrer starren Versteinerung und erhob sich mit unerwarteter Agilität aus ihrem Schaukelstuhl. Dieser erhielt durch ihr Aufstehen einen unwillkürlichen Anstoß. Während der Stuhl wie aus eigener Überzeugung wieder hin und her zu schaukeln begann, lief Olma langsam und auf ihren hölzernen Gehstock gestützt zu ihrem Kleiderschrank hinüber. Dieser ragte wie ein deckenhoher Monolith aus über die Jahre geschwärztem Eichenholz über der gebeugten alten Frau. Sie lehnte den knorrigen Gehstock gegen die Wand. Mit einem groben Eisenschlüssel, den sie aus ihrer Jackentasche zog, entriegelte Olma die schwere Schranktür, die dann auf gut geölten Scharnieren leiste aufschwang.
Mit geschickten Fingern streifte Olma einige Schichten Blusen und Schals beiseite, bis sie eine schwere runde Form, die unter einem Kleiderhaufen auf dem mittleren Regal in den Schatten geruht hatte, enthüllte. Nach einem kurzen Zögern ergriff Olma die Form mit beiden Händen und hob sie langsam aus dem Kleiderschrank heraus und zog sie an sich. Im fahlen Mondlicht, welches durch ein Fenster ins Haus fiel, erleuchtete die Kristallglas-Kugel mit einem milchigen weißen Schein.
Vorsichtig, als hielte sie ein neugeborenes Kind in Händen, trug die Dorfälteste ihren uralten Schatz zurück zum Kamin.
Still betrachtete Olma die Sphäre im roten Licht des Kaminfeuers. Verzerrt tanzten die glühenden Feuerzungen in der Glaskugel und füllten sie mit Rauch. Immer dichter wurde der weiß-graue Feuernebel im Inneren, bis die Flammen nicht mehr zu sehen waren und die Kugel völlig opak geworden war. Olma, die Seherin, holte mit ihren alten Lungen tief Atem und konzentrierte sich...
Der Rauch in der Kristallkugel begann sich, wie von einem unsichtbaren mentalen Kochlöffel umgerührt, zu drehen. Langsam aber sicher wirbelte der Nebel immer schneller, als wäre die Kugel eine Badewanne, in der jemand den Stöpsel rausgezogen hatte, bis er sich endlich lichtete und ein Bild preisgab. In der Glaskugel erschien das Abbild einer Geburtstagstorte, so perfekt in ihrer Komposition, ihrer Aufschichtung, ihrer Glasur, den symmetrisch angeordneten Kerzen, dass sie glatt von Tigrean hätte stammen können...
Nein, ich will nicht wissen, dass Mivey heute Geburtstag hat... Dachte Olma und schloss die Augen, um ihre Konzentration erneut zu sammeln. Dann richtete sie ihren Blick wieder in die mysteriöse Tiefe der Kristallkugel. Die Vision der Torte verblasste und aus dem metaphysischen Nebel ging ein anderes Scheinbild hervor, welches einige Sekunden lang lebensecht im Kugelinneren erschien, bei dessen Anblick Olma eine Augenbraue hochzog - und dann abrupt die Kugel fallen ließ. Mit einem dumpfen Knall schlug die massive Glassphäre auf dem Holzboden auf und rollte einige Meter in Richtung der Haustür... Und prallte mit einem weiteren dumpfen Knall von der Haustür ab, als diese genau in dem Moment leise von außen geöffnet wurde.
Olma drehte sich nicht um, als sie das Geräusch hörte. Auch nicht, als die dunkle Silhouette einer hünenhaften Figur vom Mondlicht von hinten beleuchtet auf übergroßen Wolfstatzen in die Hütte trat.
"Hähähähähä..." lachte die alte Seherin leise zu sich selbst, darüber, dass sie außgerechnet ihren eigenen Tod als letztes in ihrer Kristallkugel gesehen hatte - und dass die Werwölfe an ihr zumindest kein Festmahl finden würden. Sie fürchtete den Tod schon lange nicht mehr, oder hatte sich über die letzten 20 Jahre zumindest so sehr an die Furcht gewöhnt, dass sie sie nicht mehr spürte. Als der riesiege Werwolf voller Blutlust die paar Meter zwischen der Eingangstür und der Stelle, an der Olma still und gelassen stand, binnen Bruchteilen einer Sekunde mit einem gewaltigen Sprung überquerte, sah Olma ein letztes Mal in Richtung des Kamins, in dem die ausgebrannte Glut nur noch schwach glimmte. Dann streckte die Bestie sie mit einem einzigen Prankenhieb nieder, und die dünne Gestalt der Dorfältesten brach in sich zusammen.
Und wie von Geisterhand schaukelte der Schaukelstuhl weiter...
Geändert von Olman (21.03.2009 um 16:56 Uhr)
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